In dieser Folge möchte ich mich einem Thema widmen, das ich sehr mag und von dem ich weiß, dass es einigen Singenden den Angstschweiß auf die Stirn treibt oder zumindest ein mulmiges Gefühl bereitet, nämlich der „Improvisation“. „Was ist das, wie geht das und wofür ist das gut?“ sind ganz grob gesagt die Fragen, mit denen ich mich beschäftigen möchte.
Eine erste Definition bietet Wikipedia: „Als Improvisation wird eine Form musikalischer Darbietung verstanden, bei der Tonmaterial und Klangfolgen in der Aufführung selbst entstehen und nicht oder wenig vorher schriftlich fixiert worden ist. Die musikalischen Klangereignisse verdanken sich dem spontanen Einfall und der Inspiration.“ Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass es nicht einmal unbedingt eine Darbietung sein muss, denn man kann ja auch einfach so improvisieren, ohne dass jemand zuhört.
Die musikalische Improvisation entsteht also im Hier und Jetzt und man braucht dafür spontane Einfälle. Und da haben wir schon einen guten Grund für die so verbreitete Improvisationsscheu: Was ist denn, wenn ich einfach keinen Einfall habe? Oder nur langweilige, doofe Einfälle? Oder peinliche Einfälle?
Ich weiß gut, wovon ich rede, schließlich habe ich mich als Teenager immer, wenn meine Band im Proberaum Session gemacht hat, aufs Sofa verkrümelt. Da wurde eben einfach drauflos gejammt und ich hätte eigentlich was dazu improvisieren können, hab mich aber nicht getraut. Am schlimmsten waren die Sessions mit einer befreundeten Band, da gab es nämlich eine Sängerin, die viel mutiger war als ich und die mir vorgemacht hat, wie es gehen könnte. Ich habe dann gefühlt, wie sich in mir Töne gebildet haben, raus kam davon aber nichts... oder nur sehr wenig. So richtig bin ich diese Improvisationshemmung, trotz immer mehr Bühnenerfahrung und trotz begonnenem Musikstudium lange nicht los geworden. Als ich dann mit Anfang 20 beim Popkurs in Hamburg mitgemacht habe, kam die Wende. Dort treffen sich Instrumentalist*innen und Sänger*innen aus ganz Deutschland, um Musik zusammen zu machen. Ich hatte zwar eine Menge selbstgeschriebener Songs dabei, aber viele Formationen fanden sich da eben auch übers Jammen, also über das gemeinsame Improvisieren. Da schnappte sich dann eine Sängerin oder ein Sänger einfach das Mikro, wenn was gespielt wurde und sang spontan dazu. Irgendwann war mein Wunsch so groß, dabei zu sein, dass ich über meinen Schatten gesprungen bin und mich auch getraut habe. Im Laufe der Jahre folgten Workshops, Klangexperimente, Sessions und Fortbildungen zu dem Thema und seit vielen Jahren improvisiere ich auch total gerne zu Pop- und Jazzmusik auf der Bühne.
Aus dieser Erfahrung heraus, aber auch durch das Begleiten anderer Sänger*innen weiß ich, wie viel Freiheit es gibt, spontan drauflos singen zu können, ohne Angst!
Ein paar praktische Tipps zum Improvisieren liefere ich dir später, jetzt bleibe ich nochmal ein bisschen bei der Begriffserklärung. Es gibt nämlich ganz unterschiedliche Arten der Improvisation beim Singen. Ich starte mal mit der freien Improvisation. Du kannst ja in diesem Moment drauflos singen, ohne irgendwelche Vorgaben, dann improvisierst du frei. Du kannst dir zum Beispiel ein Bild oder eine Landschaft ansehen und das, was du siehst, in stimmlichen Tönen ausdrücken oder auch einen Duft oder ein Gefühl mit der Stimme beschreiben. Du kannst einen Spontansong singen oder die Klänge in einem Raum erforschen. Du kannst auch die Möglichkeiten deiner Stimme durch Improvisation erforschen. Oder ein Gedicht aus dem Stegreif vertonen. Da sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Sehr kunstvoll tut dies z.B. die amerikanische Sängerin Lauren Newton. Klangbeispiele von ihr sind u.a. bei Youtube zu finden. Ein sehr spannender Vokalimprovisateur ist auch Bobby McFerrin, den viele von seinem Hit „Don’t Worry, Be Happy“ kennen. Unter den Suchbegriffen „Bobby McFerrin“ + „Improvisation“ findest du jede Menge. Bei ihm kann man auch sehr gut Hören, dass durchs Improvisieren regelrechte Songs entstehen können. Der Stimmerforschung vor allem durch Improvisation widmen sich u.a. die Menschen vom Roy-Hart-Theatre. Ich habe auch mal einen Workshop dort gemacht und war verblüfft, welche Klänge und Möglichkeiten ich in meiner Stimme durch das Improvisieren gefunden habe. Jeder kann das, jede Stimme kann das, weil es da gar nichts zu können gibt, du gibst selber vor, was deine Stimme tun soll, nichts ist dort richtig oder falsch oder gut oder schlecht, wirklich eine tolle Erfahrung!
Oft gibt es für Improvisation aber einen gewissen musikalischen Rahmen. Die Improvisation orientiert sich dann an vorgegebenen Harmonien und an einem bestimmten Rhythmus. Ein erster Ausprobiertipp: Nimm dir doch mal ein Playback eines Songs, also eine Instrumentalversion ohne Stimme. Und dann sing dazu, was dir gerade so einfällt. Und nimm dir dabei noch gar nicht vor, dass dir was Passendes einfällt, sondern versuch mal für dich herauszufinden, was für deine Ohren ganz gut klingt und was nicht so. Es macht zwischendrin wirklich richtig Spaß, z.B. extra schiefe Töne zu finden oder verschiedene Rhythmen zu machen. Du malst also quasi wie ein Kind in einem Bilderbuch und darfst ruhig mal über den Rand malen oder ein Blatt lila und einen Hund blau malen. Weil wir es uns immer so schwer machen dadurch, dass wir sofort alles richtig machen wollen. Es muss uns ja noch niemand dabei zuhören!
Wenn der musikalische Rahmen eher einfach ist, wie bei vielen Popsongs, ist das Improvisieren meistens auch einfacher, bei komplizierteren Jazzstandards wird auch das Improvisieren meistens schwieriger. Im Pop wird das Improvisieren oft mit so genannten Fills oder auch Ad Libs und Runs gemacht, also Einwürfen und Läufen. Diese Singtradition findet man schon im Gospel und Blues, aber auch in Folksongs. Eine weitere Art im Pop zu improvisieren ist es, die Melodie eines Songs zu verändern, also mal andere Töne zu singen oder die Rhythmik umzugestalten.Manchmal kann man z.B. hören, wie Sänger*innen einen Song live etwas anders singen als in der Studioversion. Das sind dann oft kleine Spontanimprovisationen. So gibt es also eine große Bandbreite von ganz freier Impro bis hin zu kleinen Abweichungen von vorgegebenen Melodien.
Beim Singen gibt es in puncto Improvisation gegenüber dem Instrumentalspiel Besonderheiten. Als Sänger*in braucht man nämlich wirklich keine theoretische Ahnung von Musik, man kann mit dem bloßen Ohr und Gefühl improvisieren. Und das quasi in jedem Moment, denn das „Instrument“ hat man ja sogar auch immer dabei. Andererseits haben wir aber auch viel weniger zum dran festhalten. Ein Instrumentalist oder Instrumentalistin kann lernen, welche Töne in welche Tonart passen und sich dann zumindest sicher sein, dass diese Töne nicht ganz daneben sind, wenn sie gespielt werden. Mal vereinfacht ausgedrückt: Wenn ein Song in C-Dur geschrieben ist, dann passen höchstwahrscheinlich beim Klavier die weißen Tasten gut, die schwarzen nicht so gut. So was wie Tasten gibt es bei uns Sängern und Sängerinnen aber nicht, wir turnen da ohne Netz am Trapez. Übrigens ein weiterer wichtiger Grund für Improvisationsangst: Ja, manche Töne können so richtig daneben gehen und das kann unangenehm sein. Manchmal kommt man auch nicht so leicht aus dieser schiefen Ebene raus und dann passt der nächste Ton nicht und der übernächste auch nicht. Deshalb ist mein Tipp: Ganz viel machen, vor allem auch erst mal für sich oder im Proberaum, um Erfahrung zu sammeln und sich dabei Fehler und schiefe Töne wirklich gönnen. Und wenn man mal auf der Bühne beim Improvisieren ins Schiefe geraten ist merkt man, dass sich dann kein Höllenschlund auftut oder schlimme Dinge passieren. Es geht einfach weiter und der nächste Song kommt, das ist eine beruhigende Erfahrung. Ein weiterer Tipp: Je besser dein Ohr wird und du das auch mit Musiktheorie untermauern kannst, desto sicherer kannst du dich auch als Singende/r in harmonischen Zusammenhängen bewegen, die etwas komplizierter werden, wie im Jazz. Hier gibt es tolle Improvisationsschulen, mit denen man das trainieren kann, wie z.B. „Hear It And Sing It“ von Judy Niemack , „Vocal Improvisation“ von Michele Weir oder „Scat“ von Bob Stoloff. Und im Internet kannst Du zum Thema zahlreiche Videotutorials finden.
Eine weitere Besonderheit beim Singen ist, dass Gesang ja meistens mit Wörtern oder zumindest Silben gekoppelt ist. Was tun beim Improvisieren? Bei Sessions z.B. ist Fantasie-Englisch - oder -deutsch oder wahlweise eine andere Sprache - sehr praktisch, also etwas, das wie eine Sprache klingt, aber eigentlich keinen Sinn macht. Das kann aber auch erst mal irgendwie peinlich sein. Interessanterweise habe ich festgestellt, dass meine Bandkollegen es meistens gar nicht bemerken, wenn ich sprachmäßig irgendwelchen Quatsch singe. Wenn man diese Hemmung überwindet, hat man ein wunderbares Tool fürs Songschreiben in der Hand: Musik wird von einer Band/ Begleitung , dem Computer oder dir selbst z.B. auf der Gitarre oder dem Piano gespielt und du improvisierst mit Fantasiesprache etwas dazu. Manchmal entstehen dabei dann doch schon sinnvollere Satzfragmente oder Textideen und vor allem Melodien, die dann vertextet werden können. So ist Improvisation auf jeden Fall eine gute Hilfe zum Songwriting.
Beim Popimprovisieren gibt es oft Silben wie „uh“, „yeah“, „hey“, „baby“, „oh“ usw. Manchmal werden auch Fragmente aus dem Text genommen. Ein gutes Beispiel ist die Endimpro des Songs „Get here“ von Oleta Adams (ab ca. dreieinhalb Minuten), eine Mischung aus Textstückchen und freien Silben.
Das vokale Improvisieren im Jazz wird meistens Scat genannt und benutzt viele lautmalerische Silben, wie „scooby“, „dweija“ „wabdow“ usw. Richtig puren Scatgesang auf höchstem Niveau findest Du, wenn du bei Youtube „Ella Fitzgerald“ + „Scat“ eingibst. Sie improvisiert sowohl mit dem Text des Songs, das heißt sie behält die Lyrics, verändert aber spontan die Melodie und den Rhythmus, als auch mit Scatsilben. Jazzimpro kann aber auch klingen wie eine Phantasiesprache, zu hören z.B. bei einer Liveaufnahme von Celine Rudolph mit „Matakoto“ bei Youtube.
Hier noch ein paar Tipps für Improbeginner:
Nimm dir wieder ein Playback von einem Song, der dir gefällt. Grenze jetzt deine Möglichkeiten ein, z.B.: Singe nur kleine Motive mit maximal drei Tönen / sprich verschiedene Rhythmen auf „tatata“ / singe nur aufsteigende Linien auf „lalala“ / singe ein kurzes Motiv und beginne das nächste Motiv mit deinem letzten Ton / singe mal ganz hoch und mal ganz tief usw. Das heißt, du hast nicht gleich unendlich viele Möglichkeiten sondern machst es erst mal etwas schlichter.
erlaube dir langweilig zu sein, dich zu wiederholen, schief zu singen.
Fang an, schiebe es nicht vor dir her.
Mach aber auch nicht zu viel auf einmal.
Sammle nach und nach Erfahrung. Gute Improvisateure können durch Erfahrung bei Bedarf auf Tonverbindungen und Licks zurückgreifen, die sie in früheren Improvisationen gefunden haben, z.B. wenn der Inspirationsfunke mal nicht so zündet.
Lass dir Zeit, manchmal singt man erst mal uninspiriert in der Gegend herum und dann wird es nach und nach immer lockerer und kreativer.
Du musst nicht lückenlos die ganze Zeit durchsingen, sondern darfst auch mal Pausen lassen.
Such dir einen Vocalcoach, der oder die mit dir das improvisieren übt. Oder wühl mal im Internet, da gibt es jede Menge gute Tipps.
Erlaube dir langweilig zu sein, dich zu wiederholen, schief zu singen.
Mach’s dir nicht so schwer und ernst. Wir suchen Kreativität und Inspiration und die kann man mit Überforderung und Beurteilung im Keim ersticken. Sie brauchen Freiheit, Albernheit, Spielfreude.
Selbst, wenn du niemals auf der Bühne improvisieren würdest, kann dir die Beschäftigung damit viel für deinen Gesang geben. Es verbessert deine gesanglichen Fähigkeiten und Du lernst deine Stimme viel besser kennen. Du wirst kreativ, das heißt, Du erschaffst etwas neues, selbst in Songs, die andere komponiert haben. Oder Du findest, wie oben beschrieben, über das Improvisieren sogar zum Songwriting.
Und es macht wirklich freier, sich aus vorgegebenen Melodien und Rhythmen mal zu lösen. Dann kann es einen auch nicht so schnell umhauen, wenn musikalisch etwas unvorhergesehenes passiert, also wenn z.B. dein Gitarrist einen Takt unterschlägt.. Du bist beim Improvisieren ganz im Moment, reagierst auf die Musik und kommunizierst mit deinen Mitmusiker*innen, eine ganz wichtige Fähigkeit beim Musikmachen.
Und all das, die Kreation, die Inspiration, das Im-Moment-Sein, das Freisein, der Kontakt mit sich und anderen,sind natürlich die besten Unterstützer für einen ausdrucksstarken und überzeugenden Gesang!
Comments