Hallo liebe Leserrinnen und Leser, hier kommt mein erster Beitrag im Jahr 2021, schön dass du meinen Blog wieder liest und herzlich willkommen an alle Neuleser*innen und
-leser! Mein Name ist Nikola Materne, ich bin Sängerin/Songwriterin und Vocalcoach im Bereich Pop. Hier in meinem Podcast geht es um das ausdrucksstarke Singen, um die Gefühle im und rund ums Singen und vieles mehr zum Thema Singen.
Direkt nach meiner sehr erholsamen Weihnachtspause habe ich einen Artikel für die „Vox humana“ geschrieben, das ist eine Fachzeitschrift für Gesangspädagog*innen und ich hoffe, dass dieser Artikel auch für dich interessant ist, deshalb gibt’s den gleich zu Lesen.
Ich schreibe da über meine „Live Your Song!“-Gesangsübungen und weil er in der Rubrik mit dem Namen „Aus der Praxis“ erscheint, habe ich versucht, meine Art zu unterrichten auch sehr praktisch darzustellen. Ich gebe natürlich auch stimmtechnischen Gesangsunterricht und kümmere mich mit meinen Schüler*innen um musikalische Dinge wie Rhythmus, Melodie, Intonation usw. Aber spezialisiert habe ich mich auf den emotionalen Ausdruck beim Singen und um vieles drumherum, was damit zu tun hat. Dafür habe ich ein Konzept entwickelt, das „Live Your Song!“ heißt und das einen Podcast bzw. für Lese*innen einen Blog, Videotutorials, Gesangsunterricht, Workshops und ein Buch mit praktischen Übungen umfasst. Falls du dir unter solchen praktischen Übungen noch nicht so richtig was vorstellen kannst oder du neben den Beispielen im Buch und den Tutorials noch mehr Anregungen suchst, kann der folgende Artikel dir da hoffentlich weiterhelfen. Ok, es geht los:
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Live Your Song!
Übungen für das Singen mit Ausdruck und Feeling
von Nikola Materne
Seit über 25 Jahren gebe ich Laien, Profis und Studierenden Gesangsunterricht in der Popularmusik (also Pop, Rock, Jazz usw.) und kann dabei sowohl im gesangstechnischen als auch im musikalischen Bereich durch mein Studium, meine Ausbildung als funktionale Stimmpädagogin im Rabine-Institut, zahlreiche Fort- und Weiterbildungen und meine Erfahrung als Musikerin auf ein solides Fachwissen zurückgreifen.
Ein Herzstück meiner gesangspädagogischen Arbeit ist aber auch, neben der Stimm- und Musikausbildung der Singenden, das Erwecken und Verfeinern ihres stimmlichen Ausdrucks. Wie kann ein Song mit Leben, mit Herz und Seele gefüllt werden? Welche Emotionen stecken in der Musik und im Text, welche Stimmung hat ein Song? Wie kann das Publikum berührt und mitgerissen werden?
Hierzu hat mir immer eine gute, umfassende pädagogische Methode gefehlt. Hier und da gab es Impulse im Gesangsunterricht oder in Workshops, aber richtig fündig geworden bin ich erst bei den Schauspielpädagogen, deren Hauptaufgabe es ja ist, ihren Schülern beizubringen, Texte und Rollen glaubhaft und emotional nuanciert zu sprechen bzw. zu spielen, also "zum Ausdruck" zu bringen. Im Laufe der Jahre habe ich viele Übungen gesammelt, aufs Singen übertragen, weiterentwickelt oder auch selbst erfunden, woraus ein Unterrichtskonzept entstanden ist, das ich hier anhand von drei Beispielen näher beleuchten möchte.
Die „W-Fragen“:
Die 25-jährige Hobbysängerin Tanja hat den Song "I believe I can fly" von R. Kelly, eine Soulballade mit Gospelelementen, in den Unterricht mitgebracht. Die eigentliche Melodie des Songs ist relativ einfach, der Tonumfang eine None, das Ganze liegt für sie in einer komfortablen Lage, bei der sie weder in der Tiefe noch in der Höhe an Grenzen stößt. Bei den improvisierten Einwürfen und Melismen am Ende des Songs wird es gesanglich etwas anspruchsvoller. Die größte Herausforderung liegt für Tanja aber vor allem in einer überzeugenden Interpretation dieser hochemotionalen Ballade. Der Text erzählt von einer Rettung aus tiefster Verzweiflung und der Hoffnung auf Erlösung. Der Song könnte damit ohne weiteres in einer Gospelmesse gesungen werden und soll die Zuhörer zum Mitfühlen und zu Begeisterung, ja, Euphorie, animieren.
Tanja singt alles richtig, kann den Text auswendig und hat sogar gute Improvisationen parat – klingt aber, wie sie auch selber findet, ziemlich langweilig und noch gar nicht nach großen Gefühlen. Deshalb beschäftigen wir uns intensiv mit dem Songtext und beantworten zuerst einmal die "W-Fragen", also "Wer bist Du? Wo spielt der Song? Wen sprichst Du an? Wie ist dein Gefühl?" usw., eine Technik, mit der auch Schauspieler ihre Rolle erarbeiten. Schon die erste Frage, wie alle weiteren, kann von einem Sänger aber viel freier beantwortet werden, als von einem Schauspieler, der sich ja an Rollen- und Drehbuchvorgaben halten muss. So hat sich Tanja bei einer ihrer Übungsinterpretation vorgestellt, eine in ein feierliches Gewand gekleidete Priesterin zu sein, die in einer großen Kirche vor ihrer Gemeinde, die sie aufbauen und bestärken möchte, singt. Bei einem anderen Versuch hat sie sich innerlich in eine Zeit zurückversetzt, als sie sich, nach einer schweren Phase in ihrem Leben, endlich wieder stärker und positiver gefühlt hat. Auch die Frage nach dem Ansprechpartner kann den stimmlichen Ausdruck stark beeinflussen, so klingt es anders, für die imaginierte Kirchengemeinde zu singen, als vor einer einzelnen Person, die man von seiner neugewonnenen Stärke noch überzeugen muss. Bei all diesen inneren Bildern und Geschichten sind der Phantasie und der Experimentierfreude keine Grenzen gesetzt, und es macht sowohl den Schülern als auch mir großen Spaß herauszufinden, welche Vorstellung den überzeugendsten gesanglichen Ausdruck hervorbringt. Um die verschiedenen Emotionen und ihre Intensität zu klären, male ich mit meinen Schülern zu einem Song häufig ganze „Gefühlspartituren“ mit Farben, Bildchen und Beschreibungen, was die folgende Interpretation meistens sehr viel nuancenreicher und überzeugender macht. All diese beschriebenen Herangehensweisen (und es gibt natürlich noch viele mehr) wirken von innen nach außen. Über die Beschäftigung mit inneren Bildern und Emotionen wird der Ausdruck verstärkt.
Der Bewegungsablauf:
Meine zweite Beispielsängerin ist die 18-jährige Hannah, die mit ihrer Coverband oft auf der Bühne steht. Sie möchte den Song „Shallow“ von Lady Gaga singen. Am schwierigsten ist es für sie, den übergangslosen tonalen Sprung von einer kleinen Dezime zwischen der eher ruhigen Strophe mit dem letzten Ton auf dem kleinen „a“ zum voll gebelteten bruststimmigen „c2“ im Refrain zu schaffen. Mit guter Atem- und Körpervorbereitung klappt der hohe Refrain schon ganz gut, das heißt, sie ist stimmtechnisch dazu in der Lage. Aber die plötzlich nötige Energie für den Wechsel kann sie noch nicht abrufen. Auch hier nutzen wir den Songinhalt, allerdings steht diesmal der Körper, also Bewegungen, Spannung, Blicke, Aufrichtung usw., im Fokus. Die Strophe erzählt von Unerfülltheit im Leben, der Refrain dann vom Absprung und vom Eintauchen in ein tiefes Gewässer, ein Bild für den Mut, sich beherzt aufs Unbekannte einzulassen. Hannah geht jetzt in den letzten Zeilen der Strophe langsam immer weiter vorwärts und stellt sich dabei vor, auf den Rand einer Klippe zuzulaufen. Ihre Spannung darf immer stärker werden, der Blick ist auf ihr Ziel gerichtet, der ganze Körper drückt Entschlossenheit aus. Zum Refrainstart ahmt sie quasi den Sprung von der Klippe nach, indem sie sich vom Boden in eine große Aufrichtung abdrückt und ihre Arme weit ausbreitet. In dieser Pose bleibt sie den ganzen Refrain. Durch diesen Bewegungsablauf schafft sie es, ohne Schwierigkeiten in die Höhe zu kommen, sie klingt befreit und kraftvoll statt angestrengt, es gibt einen Spannungsbogen von der Strophe zum Refrain, der Ausdruck wird intensiver und überzeugender.
Körperbewegungen, von der Körperaufrichtung über Gesten bis hin zur Mimik, werden von Schauspielern genutzt, um Emotionen auszudrücken. Die Wirkungsweise geht hier von außen nach innen, Bewegung und Handlung führen zum emotionalen Ausdruck. Das können auch Sänger nutzen, müssen allerdings manche Bewegung unter Umständen modifizieren, damit diese die Stimmtechnik unterstützen, statt zu stören. Ein weiterführender Schritt ist dann der herauszufinden, inwieweit die in der Übungssituation gefundenen Bewegungen für die Bühne genutzt werden können.
Die Sprechdramaturgie:
Jetzt zum dritten Beispiel: Der 40-jährige Pianist Timo will seine Gesangsfähigkeiten verbessern, um Background auf der Bühne singen zu können. Er möchte den Jazzstandard „My one and only love“ üben, der eine ziemlich anspruchsvolle Melodie hat, die schon in den ersten zwei Takten einen Stimmumfang von einer Duodezime verlangt, in seinem Fall vom großen „g“ zum „d1“. Seine tieferen Töne sind immer etwas hauchig, abgedunkelt und leise. Je höher es wird, desto enger, gedrückter und lauter wird die Stimme. Dazu gibt es natürlich zahlreiche Stimmübungen, die dabei helfen können, die Stimmklänge der verschiedenen Tonhöhen aneinander anzugleichen und alles müheloser zu singen. Ich möchte hier aber eine weitere eher interpretatorische Herangehensweise vorstellen, die dann auch wieder Einfluss auf die Stimmtechnik haben kann. Timo nimmt sich, wie ein Sprecher, den Text des Standards erst einmal von der Melodie völlig losgelöst vor. Wir üben, die Textaussage herauszuarbeiten, indem er Satzbetonungen und -melodien findet und diese dann spricht. Dabei darf er auch ruhig mal übertreiben, wie ein Schauspieler, der auf einer großen Theaterbühne einen Monolog deklamiert. Dann versucht er, seine Aussagen und Betonungen auf den Gesang zu übertragen. Dafür setzt er jetzt seine Stimme erzähldienlicher ein und kommt so weg von der gewohnheitsmäßig immer gleichen Färbung verschiedener Tonhöhen.
Mir als Gesangspädagogin ist es wichtig, diesen Ausdrucksaspekt immer im Auge zu behalten und im Unterricht nicht zu technisch zu werden. Es macht große Freude, gemeinsam mit den Schülern zu experimentieren und sich dabei auch immer wieder von den klanglichen Ergebnissen überraschen zu lassen. Meiner Erfahrung nach lässt sich so, natürlich auf ganz unterschiedlichem Niveau, mit den verschiedensten Sängern, vom blutigen Anfänger bis hin zum Profi, arbeiten. Auch das Coaching von Chören, Bands und Gruppen in Workshops wird durch die Beschäftigung mit dem Ausdruck bereichert.
Ein sehr schöner Nebeneffekt dieser kreativen mentalen und körperlichen Arbeit am stimmlichen Ausdruck ist, dass der Fokus des Singenden weggelenkt wird von Ängsten, ungünstigen Glaubenssätzen und Hemmungen mit all ihren körperlichen Auswirkungen hin zu den Emotionen und der Energie des Songs, was viele als sehr erleichternd und hilfreich empfinden. Herz und Seele sind am Singen beteiligt, für Sänger wie Zuhörer ein beglückendes Erlebnis.
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So, das war der Artikel. Wenn Du jetzt Lust bekommen hast, solche praktischen Übungen mal selber auszuprobieren, dann empfehle ich Dir mein Buch „Live Your Song! – 77 Übungen für mehr Ausdruck und Feeling beim Singen“ und meine Videotutorials, beides findest Du unter www.liveyoursong.de. In der nächsten Folge dieses Blogs geht es um Gesangsimprovisation und wie und warum die den Gesangsausdruck beeinflussen kann. Über Weiterempfehlung dieses Blogs z.B. bei Instagram oder Facebook, freue ich mich natürlich sehr. Danke und bis bald!
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