Intro
Heute geht es bei mir um Stimmsounds und um Vocaleffects, also um verschiedene klangliche Möglichkeiten der Stimme.
Vorneweg schon mal eine wichtige Info: Dies ist kein Stimmtechniktutorial, in dem ich erkläre, wie man den einen oder anderen Sound mit der Stimme hinbekommt und wie man sowas übt. Dafür kannst Du im Netz oder auch in einer Musikschule oder privat eine Menge Vocalcoaches finden. Mir fallen da zum Beispiel CVT-, also „Complete Vocal Technique“-Coaches ein oder auch die US-Amerikanerin Melissa Cross mit ihrem Konzept „The Zen of Screaming“, das sich speziell an Sänger und Sängerinnen richtet, die Rockeffekte wie Kratzen, Screamen usw. lernen wollen. Auch in meinen Vocalcoachingstunden mit Schüler*innen und Studierenden kümmern wir uns öfter mal um Stimmsounds, aber das kann ich im Unterricht besser und individueller beibringen, als in einem Blog oder Tutorial.
Mir geht es hier eher um die emotionale Wirkung von bestimmten Stimmsounds. Welcher Sound drückt welches Gefühl aus? Und wie können Stimmsounds die Emotionalität und den Ausdruck eines Songs unterstützen, aber auch andersherum, durch welche Gefühle, Bilder und Körperenergien können wir zu den richtigen Stimmsounds kommen? Damit das nicht zu theoretisch wird, habe ich jede Menge Beispiele und Tipps.
Die Stimme als Gefühlsvermittlerin
Gucken wir erst mal auf die Hauptfunktion unserer Stimme, nämlich das Vermitteln von Informationen und das Ausdrücken von Gefühlen. Das passiert natürlich einmal über die Sprache, aber zu einem nicht unerheblichen Teil auch über den Stimmklang. Emotionen erkennt man in der Stimme auch ohne Worte z.B. beim Weinen oder Lachen. Und derselbe Satz kann durch unterschiedliche Stimmklänge ganz unterschiedliche emotionale Inhalte bekommen. Manchmal erhält man durch den Stimmklang auch Informationen über die Befindlichkeit und den Charakter des Sprechenden, also ob jemand müde oder fit, selbstbewusst oder schüchtern, angespannt oder relaxed ist usw. Schon von Geburt an lernen wir, diese Informationen zu verstehen und dadurch einzuschätzen, wie unser Gegenüber so drauf ist. Und wir selber nutzen Stimmklänge auch, um mit anderen zu kommunizieren, manchmal bewusst, oft aber auch ganz unbewusst. Bei sehr starken Emotionen können wir unseren Stimmklang unter Umständen gar nicht mehr kontrollieren, dann wird aus dem Sprechen ein Schluchzen oder ein zitterndes Flüstern oder ähnliches. Oder wir geben nur noch Laute von uns wie z.B. Schreie oder Gluckser.
Was liegt also näher, als auch beim Singen Stimmsounds zum Ausdrücken von Gefühlen zu nutzen!
Ich stelle immer wieder fest, dass erstaunlicherweise viele Singende gar nicht oder nur sehr begrenzt überhaupt auf diese Idee kommen. Einige scheuen sich auch davor, sei es, weil sie fürchten, dass es zu übertrieben wird oder weil sie sich ein bisschen schämen, solche Sounds in die Singstimme mit reinzunehmen.
Dabei ist das Tolle ja, dass in der Popmusik jeder Stimmsound erlaubt ist. Von Grunzen bis Schreien, von Flüstern bis Kieksen findet man, wenn man nur lang genug sucht, wahrscheinlich jeden Klang, den die menschliche Stimme hergibt. Natürlich kommt es auch auf das Genre an. In der Mainstreampopmusik werden Vocaleffekte meistens eher etwas dezenter eingesetzt, aber wenn man sich z.B. die Bands anhört, die beim Rockfestival in Wacken spielen, dann werden einem dort jede Menge davon ins Ohr gepfeffert.
Ganz im Gegensatz übrigens zum klassischen Gesang: Da sind Klänge wie z.B. Kratzigkeit wirklich nicht gefragt und jeder klassische Coach wird mit seinen Schüler*innen eine reine, klare Stimme trainieren.
Drei Soundbeispiele
Ich greife mal ein erstes Stimmphänomen heraus, nämlich den hörbaren Wechsel zwischen der Kopf- und der Bruststimme, auch Registerwechsel oder, wenn es sehr krass ist, Registerbruch genannt. Das macht die Stimme z.B. beim Lachen oder beim Schluchzen. Man kann das aber auch bei Freudenjuchzern hören oder bei einer wütenden Stimme.
Auf jeden Fall ist es ein Klang, der fast immer mit einer Emotion verbunden ist. Bei einem Nachrichtensprecher/sprecherin wird man sowas nicht hören. Und wenn einem sachlichen Redner die Stimme bricht, wird das schnell als unsouverän oder unpassend empfunden.
Umgekehrt können Singende diesen Sound nutzen, um Emotionen mit ihrem Gesang zu vermitteln. Mein erstes Beispiel ist Leona Lewis mit ihrem Liebeskummer-Song: „Bleeding Love“. Hier gibt es jede Menge kleiner Schluchzer vor allem am Wortende. Im emotionalen Höhepunkt wechselt die Stimme häufig unmittelbar zwischen den Registern. Für mich klingt es wie ins Singen gestreutes Weinen und Klagen. Der Protest-Song „Zombie“ von den Cranberries, gesungen von der leider schon verstorbenen Dolores O’Riordan, ist gespickt mit Registerbrüchen. Im Welthit „I will always love you“ nutzt Whitney Houston Registerbrüche für den fulminanten emotionalen Schluss. Mit derselben Technik wird übrigens gejodelt. Ein bekannter Sänger, bei dem man diesen Sound sehr viel hören kann ist Aaron Neville, z.B. in seiner Interpretation des Gospels „Amazing Grace“. Sexyness durch den Registerwechsel lässt Prince in seinem Song „Slow Love“ hören.
Eine frohe Botschaft also für alle, die sich mit dem unhörbaren Registerwechsel zwischen Kopf- und Bruststimme herumplagen: In der Popmusik muss man das nicht zwangsläufig können, man kann den Registerbruch auch als emotionales Stilmittel nutzen.
Jetzt ein weiterer, äußerst beliebter Stimmsound in der Popmusik: Das hauchige Singen. Ich beschäftige mich gerade mit dem sehr umfassenden Stimmcoachingbuch „Universal Voice Guide“ von Alberto ter Doest und dieses Buch widmet dem hauchigen Singen ein eigenes Kapitel, hier wird dieser Sound „Whisper“ also „Flüstern“ genannt. Das hauchige Singen kann intim, geheimnisvoll, sexy, gefährlich, lieb, traurig, müde, lasziv, schüchtern usw. klingen. Eine der zurzeit bekanntesten Vertreterinnen dieser Gesangsart ist Billie Eilish, z.B. in „No time to die“, interessanterweise der Titelsong für einen James-Bond-Film, traditionell eigentlich oft eher eine Powerballade mit kräftig gesungenen Vocals. Man kann den Lufthauch deutlich hören. Bei dieser Art zu singen wird nämlich nur ein Teil der Luft in Ton verwandelt, der Rest zischt hörbar durch die Stimmbänder. Auch das ist übrigens in der Klassik sehr unbeliebt, hier ist das Ziel, dass sich die Stimmbänder perfekt schließen und so kein Lufthäuchlein verschwendet wird.
Als Übergang vom Hauchen bzw. Whisper zum Screamen, also Schreien, meinem dritten Soundbeispiel, möchte ich ein lustiges Youtubevideo von Jared Dines empfehlen, das „Whisper Screaming (The quietest Vocals in the world)“ heißt.
Man kann also flüsternd schreien!
Screamen gibt es in allerlei Ausführungen: mit Kratzen, ohne Kratzen, hell, dunkel, leise, laut usw. Gescreamt wird natürlich vor allem im Rock. Ich habe hier ein Popbeispiel: Sheryl Crow screamt ziemlich überraschend in ihrem Song „Love is a good thing“ (ca. nach 3:30 Minuten). Und nochmal Prince in seinem Song „Now“ (ab 3.40 Minuten), das klingt fast wie das Schreien eines Babys.
Das ist wohl der extremste Stimmsound in meiner Beispielliste. So einen Klang benutzt man im, sagen wir mal „normalen“, Leben wohl eher selten und wenn, dann nur in extremen emotionalen Situationen, also z.B. bei großer Wut, Angst, aber auch Begeisterung. Deshalb hat dieser Sound beim Singen eine so große Wirkung.
Es gibt natürlich noch viel mehr Sounds: Kratzen, Knarzen, Quetschen, eng, weit, hell, dunkel, gedrückt, weich, fließend, stockend, zitternd und so weiter…das alles zu beschreiben würde den Rahmen hier sprengen.
Wie du Stimmsounds als Emotionsverstäker nutzen kannst
All diese Sounds sind beim Singen also Emotionsverstärker, aber natürlich auch Stilmittel, die einige Sänger und Sängerinnen häufig nutzen, andere eher wenig. Manche lassen ab und zu Stimmsounds in ihren Gesang mit einfließen, andere, wie z.B. die schon genannte Billie Eilish, benutzen kaum mal eine klare Stimme. Es ist am Ende auch Geschmackssache, ob man Sounds überhaupt in seinem Gesang nutzen möchte. Und es hat etwas mit der Singtradition zu tun. In Irland zum Beispiel, wo Dolores O’Riordan herkam, wird schon in der traditionellen Folkmusik viel mit dem Registerbruch gesungen, das taucht dann deshalb auch selbstverständlicher in irischer Popmusik auf.
Ganz wichtig ist auf jeden Fall, dass die Sounds nicht einfach so benutzt werden, wie in einem Kramladen, sondern dass sie etwas damit zu tun haben, was in dem Song ausgedrückt werden soll, welche Emotionen im Gesang mitschwingen, welche Stimmung ein Song haben soll. Das ist wie ein Farbkasten mit dem du sehr effektvoll emotionale Akzente setzen kannst.
Es geht dabei nicht darum, die Stimme zu verändern oder zu verstellen, sondern die Klänge zu nutzen, die die Stimme natürlicherweise bei emotionalen Lautäußerungen hat.
Jeder hat eine weinende, eine lachende, eine ängstliche, eine entspannte, eine wütende Stimme!
Oft ist es auch so, dass sich Stimmsounds von alleine einstellen, wenn du richtig in die Songgeschichte eintauchst: Dann wird in einem zärtlichen Song die Stimme von selber weich und luftig, in einem wütenden gepresst und kratzig, in einem fröhlichen hell und klar. So können Stimmsounds den emotionalen Ausdruck steigern und umgekehrt, der emotionale Ausdruck zu Stimmsounds führen.
Wenn Stimmsounds ganz losgelöst von den Songemotionen eingesetzt werden, klingt das meistens nach Effekthascherei. Besonders fällt mir das immer in Castingshows auf, in denen die Singenden ihre Idole irgendwie imitieren, ohne so genau zu checken, worum es im Song eigentlich geht. Das wird dann schnell anstrengend bis albern.
Es macht also Sinn, sich intensiv mit der Songstory auseinanderzusetzen. Schreib dir doch mal in den ausgedruckten Songtext eines Songs alle Gefühle, die darin auftauchen oder auch Stimmungen, die du vermitteln möchtest und die dazu gehörigen möglichen Stimmsounds.
Also z.B.:
– Müde und traurig / etwas matter und hauchiger Klang
– unterdrückt wütend / gepresster, manchmal leicht kratziger Sound
– fröhlich und entspannt / freundliche, weiche, helle Stimme.
Sehr hilfreich ist es, auch gleich ein Körpergefühl dazu zu nehmen, das dich dabei unterstützen kann:
– Müde und traurig / etwas matter und hauchiger Klang / hängende Schultern, gesenkter Kopf, trauriger Blick
– unterdrückt wütend / gepresster, manchmal leicht kratziger Sound / hohe Körperspannung wie ein Tiger kurz vorm Angriff, stechender Blick, gerunzelte Stirn
– fröhlich und entspannt / freundliche, weiche, helle Stimme / locker, bewegt, leicht tanzend, lächelnd.
Wenn du dich praktisch mit Stimmsounds beschäftigen möchtest, dann empfehle ich dir, damit zuhause oder im Proberaum ganz viel herum zu experimentieren. Probiere alles aus und übertreib ruhig mal. Was du hinterher davon behalten möchtest, kannst Du dann immer noch entscheiden. Manchmal macht man nach so einer Experimentierphase einfach nur ein kleines bisschen mehr als vorher, also mal ein Haucher oder ein Knarzer hier und da, und schon klingt der Gesang viel emotionaler.
Hör dir auch mal Hörspiele oder Hörbücher an, bzw. hör auf die Stimmen in Filmen, die mit vielen Sounds arbeiten (zum Beispiel „Harry Potter“) und versuche, diese Stimmklänge zu imitieren. Imitiere auch mal Sänger und Sängerinnen, nicht, um eine Kopie von jemandem zu werden, sondern um deren Stimmsounds auszuprobieren. Superspannend sind Studioversionen berühmter Sänger*innen, z.B. gibt es „Billie Jean“ von Michael Jackson als Studio-A-Capella-Version, also Stimme pur, wo man jeden noch so kleinen Kiekser, Atmer, Kratzer und Shout bestens hören kann.
Und beobachte mal in Videos, was die Sänger und Sängerinnen mit ihrem Körper tun, um ihre Sounds zu unterstützen. Screamer benutzen z.B. oft sehr extreme Mimik und krasse Körperspannung, um ihre Sounds zu erreichen.
Wenn es dir irgendwie peinlich ist, Sounds zu machen oder du keinen Zugang findest, dann hilft es manchmal, sich vorzustellen, Theater für kleine Kinder zu spielen. Da gibt es dann z.B. den brüllenden bösen Löwen – uaaahhh - und schon hast du einen ziemlich guten Rocksound gefunden.
Es kann hilfreich sein, sich Gedanken über die eigene Künstlerpersönlichkeit zu machen: Bist du extrovertierter, starker Shouter/Shouterin oder introvertierter, melancholischer Singer/Songwriter/in? Traust du dich, crazy Statements zu machen oder willst du eher freundlich und verbindlich sein? An dieser Stelle mache ich mal eine kleine Werbung in eigener Sache, ich habe mich nämlich in meinem Buch „Popvocals - Der Weg zur eigenen Stimme“ intensiv mit diesen Themen beschäftigt. Du findest dort viele Tipps und Übungen, die dir helfen können, deine Künstlerpersönlichkeit zu definieren.
Stimmsound und Gesundheit
Beim Thema Stimmsounds darf die Stimmgesundheit natürlich nicht fehlen. Vocaleffects, vor allem krassere wie Screaming und Kratzen, bergen die Gefahr, dass die Stimme davon angegriffen wird. Es gibt inzwischen gute Gesangsschulen und Vocalcoaches, die beibringen, wie man die extremsten Stimmklänge machen kann, ohne der Stimme zu schaden, aber selbst da gilt: Bevor du am Ziel bist, geht manches ungewollt doch zu Lasten der Stimme. Viele üben alleine mit Hilfe von Tutorials aus dem Netz und manche sind ganz ohne Coach unterwegs und machen einfach „learning by doing“. Solange es der Stimme dabei gut geht ist nichts dagegen einzuwenden, aber wenn du immer wieder heiser wirst oder dir dein Hals weh tut, dann solltest du lieber mal einen Profi um Hilfe bitten.
Stimmsounds und Technik
Zum Schluss noch eine Anmerkung zu Stimmsounds und Technik: Es gibt in der Popmusik Stimmklänge, die du nur mit Hilfe von Computereffekten oder Effektgeräten bzw. einem Voice Processor erreichen kannst, wie z.B. ein Telefonsound oder auch bestimmte Arten von Distortion, also Verzerrung. Manchmal werden natürliche Stimmsounds mit technischen Hilfsmitteln noch geboostet. Wenn du dir zum Beispiel bei Youtube „Halo“ von Beyoncé in der „Studio Acapella“-Version anhörst, dann gibt es auf der Gesangsspur jede Menge Effekte wie Hall, Echo, Kompressor, Doppelungen usw., die alle natürlichen Sounds verstärken und aufblasen.
Ich hoffe, ich konnte dich ein bisschen dazu anregen, mit Stimmsounds zu experimentieren und freier damit umzugehen. Das lohnt sich, denn damit hast du ein hilfreiches Tool, um deinen Gesang ausdrucksstärker zu machen.
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